„Kleine deutsche Riviera“
Der Leinpfad zwischen Eltville und Walluf

„Endgültig: Rheinufer-Linie wird gebaut“ titelte am 27. September 1974 das Wiesbadener Tagblatt. Am Tag davor hatte der hessische Wirtschaftsminister Herbert Karry für den Bau der Rheinufer-Autobahn den Planfeststellungsbeschluss angeordnet und mehr noch, auch die sofortige Vollziehbarkeit der Baumaßnahme. Ein solcher Beschluss war bisher noch nie aufgehoben worden und trotzdem gaben Erich Kapitzke und seine Mitstreiter ihren Kampf gegen eine Autobahn auf der Eltviller Promenade und auf dem Leinpfad noch nicht verloren.

Als Reaktion auf den Planfeststellungsbeschluss veröffentlicht Karl Korn in der FAZ, deren Mitbegründer und Feuilletonchef er war, einen denkwürdigen Artikel unter der Überschrift „Kleine deutsche Riviera“. Er schwärmt vom „Zauber der Rheinfront“ und der „Kunstlandschaft, die sich stromaufwärts in Richtung Walluf anschließt“. Und er verurteilt scharf, dass all dem „durch Banausentum und Geschichtsblindheit“ die Zerstörung droht: „Mit der Stadtfront von Eltville würde auch der Treidelpfad auf seiner ganzen Länge ausradiert.“ Mit seinem Artikel leistete Karl Korn einen wesentlichen Beitrag zur Rettung des Rheinufers: Im Mai 1976 hebt Karry den Planfeststellungsbeschluss auf und leitet die Nordumgehung in die Wege.

Beim „Kulturkampf“ (Karl Korn) um das Eltviller Rheinufer ging es immer auch um den Verlust des wichtigsten Naherholungsgebiets für die Kernstadt. Für Kapitzke stand immer fest, dass der Leinpfadabschnitt zwischen Eltville und Walluf – so er denn gerettet werden kann – ein Naherholungsgebiet für Fußgänger bleiben muss. Sie sollten dort angstfrei spazieren gehen können, schauen und genießen. Kapitzke wollte den Leinpfad nicht retten, um dort Raum zu schaffen für eine Radrennstrecke. Bis zu seinem Tod setzte er sich dafür ein, dass dies nicht geschieht.

Ganz im Sinne Kapitzkes äußerten sich am 2. September 2020 mehrere Eltviller Bürger, die am „Digitalen BürgerDialog“ teilnahmen: Sie wünschen sich am Rhein zwischen Eltville und Walluf ein Naherholungsgebiet und keine Radrennstrecke. Der Antwort von Bürgermeister Patrick Kunkel war zu entnehmen, dass er nicht beabsichtigt diesen Wünschen zu entsprechen. Er hält damit an seiner Linie fest, den Radfahrern – auch den Schnellradfahrern – auf dem besagten Leinpfadabschnitt „freie Fahrt“ einzuräumen und ihnen keinerlei Einschränkungen aufzuerlegen. Wer eine solche Auffassung über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren beharrlich vertritt, wie der Eltviller Bürgermeister, der muss den Leinpfad zwischen Eltville und Walluf mit anderen Augen sehen als Kapitzke und Korn. Ganz offensichtlich ist Bürgermeister Kunkel nicht dem Zauber der „Kleinen deutschen Riviera“ erlegen und er sieht dort auch kein schützenswertes Naherholungsgebiet für Fußgänger.

Unser Verein missbilligt entschieden, dass er seine persönliche Einstellung zur Richtschnur seiner Politik macht. Mit Blick nach Martinsthal verstehen wir die Geisteshaltung des Bürgermeisters um so weniger, wo im dortigen Wiesental ein neues Naherholungsgebiet mit Naturerlebnispfad entsteht. Die Kosten belaufen sich auf weit über eine Million Euro. Warum verhält sich Bürgermeister Kunkel so widersprüchlich? Warum schafft er in Martinsthal mit großem Engagement und hohen Kosten ein neues Naherholungsgebiet, während er zeitgleich tatenlos zuschaut, wie das bestehende Naherholungsgebiet in Elville unter die Räder kommt?

Mit seiner Grundeinstellung, den naturbelassenen Leinpfad als einen belanglosen Weg zu sehen, der keines Schutzes bedarf, offenbart Bürgermeister Kunkel eine erschreckende Nähe zu einer Geisteshaltung, wie sie von den Befürwortern einer Rheinufer-Autobahn während des Kampfes um die Linienführung der Umgehungsstraße propagiert wurde. Der Leinpfad sei „eine Müllhalde, Domizil für Ratten und lichtscheues Gesindel“ und eine Autobahn am Rheinufer „wirke daher müllbefreiend“, so das Wiesbadener Tagblatt am 26. September 1968. Der wortgewaltigste Befürworter einer Rheinufer-Autobahn war Eberhard Kunkel, der Vater des Eltviller Bürgermeisters. Dieser gab den Eltvillern vor ziemlich genau 50 Jahren in einer Anzeige im Wiesbadener Tagblatt die boshafte Empfehlung, sie mögen die Autobahn nicht als Nordumgehung bauen, sondern auf dem Leinpfad, „damit die Stadt der Rosen nicht fern der Straße kümmerlich verwelken muß.“

Der Stadtbildverein fordert von Bürgermeister Kunkel, dass er mit den Bürgern der Eltviller Kernstadt endlich in einen Dialog tritt, welche Grundidee für den Leinpfadabschnitt zwischen Eltville und Walluf künftig verfolgt werden soll: Radrennstrecke oder Naherholungsgebiet für Fußgänger. Man muss sich entscheiden. Beides gleichzeitig geht nicht, wie man auch im Rheingau in den letzten Jahren leidvoll erfahren musste. Und wenn schon der hessische Geschäftsführer des ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrrad Club) „einen gesellschaftlichen Trend zu mehr Rücksichtslosigkeit“ feststellt, dann sollte man endlich damit aufhören, das Problem mit Appellen an die Vernunft anzugehen.